Ausklammerung

Viele Verbformen sind im Deutschen aus mehreren Wörtern zusammengesetzt. Das ist nicht unbedingt selbstverständlich. So besteht z. B. der Satz „Ich habe gelesen“ im Lateinischen und im Griechischen je aus nur einem Wort: legi  bzw. ἀνέγνων.

Dass im Deutschen gewisse Verbformen durch Hinzunahme von Hilfsverben (sein, haben, werden) oder Modalverben (können, müssen, dürfen usw.) gebildet werden, hat in vielen Fällen Konsequenzen für die Wortstellung im Satz.

Erweitert man die Aussage „Ich habe gelesen“ um adverbiale Bestimmungen, Objekte, Attribute usw., so werden diese in der Regel zwischen die beiden Teile der Verbform eingeschoben.

Dadurch entsteht die Verbalklammer:

Ich habe ein Buch gelesen.

Ich habe gestern ein Buch gelesen.

Ich habe gestern ein Buch über die ägyptischen Pyramiden gelesen.

Diese Verbalklammer ist eine Eigenart der deutschen Sprache, wie Vergleiche mit dem Englischen und Französischen zeigen:

Yesterday, I have read a book on the pyramids of Egypt.

Hier, j’ai lu un livre sur les pyramides égyptiennes.

Gesprochene Sprache und Schriftsprache

In der gesprochenen Sprache besteht allerdings auch im Deutschen eine Tendenz, insbesondere präpositionale Attribute „nachzuschieben“, also aus der Verbalklammer herauszunehmen:

Ich habe gestern ein Buch gelesen über die ägyptischen Pyramiden.

In der (formalen) Schriftsprache, gerade in Fach- und Sachtexten, sind solche Konstruktionen problematisch, während sie in der Belletristik durchaus legitim sein können, um z. B. bestimmte Satzteile zu betonen oder die gesprochene Sprache nachzuahmen.

Umgekehrt kann die eigentlich korrekte Verbalklammer zu einem stilistischen Problem werden, wenn zu viele Informationen zwischen die beiden Prädikatteile eingeschoben werden, wie im folgenden Beispiel:

Ich habe gestern ein Buch über die ägyptischen Pyramiden, das neben architektonischen Aspekten auch die zeitgeschichtlichen Hintergründe ihrer Entstehung behandelt, gelesen.

Akademische Texte

In akademischen Texten sollte die Verbalklammer unbedingt eingehalten werden, sofern die Verständlichkeit und die Lesbarkeit des Satzes dadurch nicht wesentlich beeinträchtigt werden.

Die folgenden Varianten sind in meinen Augen gleichermaßen legitim.

Mit der Prozessdokumentation werden alle relevanten Informationen in einem entsprechenden Dokument, das mit der Cloud synchronisiert ist, festgehalten.

Mit der Prozessdokumentation werden alle relevanten Informationen in einem entsprechenden Dokument festgehalten, das mit der Cloud synchronisiert ist.

Dagegen bereitet das nächste Beispiel unter Umständen bereits Verständnisschwierigkeiten.

Besser wäre die folgende Variante:

Ein Blick in Texte aus dem 18. oder 19. Jahrhundert zeigt allerdings, dass man Leserinnen und Lesern damals deutlich mehr syntaktische Komplexität zumuten durfte als heute.

Diesbezüglich sind wir sehr bequem geworden – und wir lesen im Schnitt sicher auch mehr und schneller, als Menschen früherer Generationen das taten. Gerade vor diesem Hintergrund ist also in Gebrauchstexten eine übersichtliche und leserfreundliche Satzstruktur essenziell.

Ausklammerung bei Verbalkomposita

Neben den erwähnten zusammengesetzten Verbalformen gibt es verbale Zusammensetzungen, die mit anderen Bestandteilen (v. a. Präpositionen) gebildet werden (z. B. stellen aufstellen oder gehen ⇒ vonstattengehen).

Dass diese Bestandteile je nach syntaktischem Kontext wieder voneinander getrennt werden können, ist eine weitere Eigenart des Deutschen.

Er wird aufstellen.

Er stellte auf.

In diesem Fall gelten dieselben Regeln wie bei zusammengesetzten Verbformen, das heißt, Objekte und Ergänzungen werden zwischen die Verbbestandteile geschoben.

Er stellte die Skulptur, die er im Antiquariat gekauft hatte, in seinem Garten unter dem Kirschbaum auf.

Unter Umständen kann eine von der Norm abweichende Konstruktion auch in formalen Texten gewünscht sein, z.B. um einer Information besonderen Nachdruck zu verleihen.
In diesem Fall wird der „Nachtrag“ nach der Verbalklammer aber durch einen Gedankenstrich oder zumindest ein Komma abgesetzt.

Der Mitarbeiter hält im Rahmen der Prozessdokumentation die von ihm gesammelten relevanten Informationen fest – in einem entsprechenden Dokument, das mit der Cloud synchronisiert ist.

Ausklammerung beim Prädikativ

Das Phänomen der Ausklammerung betrifft neben den oben beschriebenen Fällen auch das sogenannte Prädikativ (auch Prädikatsnomen oder Gleichsetzungsnominativ genannt).

Dieses besteht meist aus einem Adjektiv oder Substantiv in Verbindung mit einem sogenannten Kopulaverb (v.a. „sein“ und „werden“):

Jonas ist krank.

Gustav II. Adolf war König von Schweden.

Auch hier treten ergänzende Bestimmungen in der Regel zwischen Kopulaverb und Prädikativ.

Jonas ist seit geraumer Zeit krank.

Gustav II. Adolf war von 1611 bis 1632 König von Schweden.

In gutem Schriftdeutsch sollten Abweichungen von dieser Regel vermieden werden, also nicht:

Sondern:

Überhaupt erstreckt sich die Ausklammerungsregel auf alle Ergänzungen, die in engem Zusammenhang mit dem Prädikat stehen, z.B. auf feste Wendungen wie „in der Kritik stehen“ oder „in Frage stellen“: