„Ich“ und „wir“ in akademischen Arbeiten?
It depends …
Immer wieder hört man, in akademischen Arbeiten sei es „verboten“, Pronomen der ersten Person zu verwenden, insbesondere „ich“ und „wir“. – Aber stimmt das?
Wie fast immer, hängt die Antwort vom Kontext und vielen anderen Faktoren ab.
Sehen wir uns die verschiedenen Möglichkeiten an. Entscheidend für meine Einschätzung sind gängige Konventionen, aber vor allem der gesunde Menschenverstand, der leider in manchen akademischen Arbeiten gegenüber einer sklavischen Regeltreue auf der Strecke bleibt.
„Ich“ oder „nicht ich“?
Das ist die Frage
Das „Ich-Verbot“ dürfte auf das Ideal einer möglichst objektiven Darstellung zurückzuführen sein. Um zu unterstreichen, dass die Untersuchung nach streng wissenschaftlichen Kriterien erfolgt und Forschende nicht etwa nach Belieben eigene Meinungen vorbringen, schien es sinnvoll, die Person des Verfassers gegenüber dem Untersuchungsgegenstand in den Hintergrund treten zu lassen.
Aus dem „Ich“ wurde damit der „Verfasser“ oder der „Autor“: „Der Verfasser untersucht in vorliegender Arbeit die Frage, ob …“.
Aber ist es nötig und sinnvoll, von sich selbst in der 3. Person zu reden?
Dass es Zeit ist, sich von dieser antiquierten Konvention zu verabschieden, macht das aktuelle APA-Manual deutlich (7th ed., 4.16), wo als Grund zudem die möglichen Missverständnisse genannt werden, die sich aus der Verwendung der 3. Person ergeben: To avoid ambiguity in attribution, use the first person rather than the third person when describing the work you did as part of your research.
Redaktionelles Wir
und pluralis maiestatis
Ähnlich fragwürdig ist die Verwendung von „wir“ anstelle von „ich“ – es sei denn, die Arbeit wurde tatsächlich von mehreren Personen verfasst.
Während das Wir bei redaktionellen Anmerkungen durchaus Sinn ergibt („Wir behalten uns vor, Ihren Text zu überarbeiten …“), weil das gesamte Redaktionsteam damit gemeint ist, erweckt ein einzelner Verfasser, der von sich selbst in der 1. Person Plural spricht, den Eindruck von Größenwahn: Zwar verwenden Könige noch heute den pluralis maiestatis („Wir, Charles III. …“) – aber eine wissenschaftliche Untersuchung dürfte dafür schwerlich der rechte Ort sein.
Auch hier lässt sich das APA Manual als Referenz zitieren, das in Bezug auf wissenschaftliche Publikationen (leider) eine ähnlich unangefochtene Autorität genießt wie der König in Großbritannien: If you are writing a paper by yourself, use the pronoun “I”; do not use the pronoun “we” to refer to yourself if you do not have coauthors.
Das inklusive Wir
(pluralis inclusivus)
„Inklusiv“ klingt gut – und das ist es auch. Deshalb wird der inklusive Plural nicht nur in Seminaren und Workshops verwendet, sondern auch in Lehrbüchern und anderen wissenschaftlichen Publikationen. Er steht übrigens auch am Beginn dieses Artikels. Bemerkt?
Der Verfasser bezieht seine Leser mit ein („In Kapitel 3 betrachten wir die Ursachen …“) und lässt sie lebhaft an der Untersuchung teilhaben. Im Prinzip spricht also nichts dagegen.
Dennoch ist das inklusive Wir im akademischen Milieu eher unbeliebt, insbesondere in den Naturwissenschaften. Gängiger sind meist trockene Passivkonstruktionen („In Kapitel 3 werden die Ursachen betrachtet …“).
Indefinites Wir
Im wissenschaftlichen Kontext völlig unpassend ist es, „wir“ wie ein Indefinitpronomen („man“, „manche“, „viele“) zu verwenden. So etwa in dem Satz „Wir leben in einer Welt, die von stetigem Wandel geprägt ist“, mit dem jede zweite Bachelorarbeit in den Wirtschaftswissenschaften beginnt. Oder in der Feststellung „Wir fühlen uns im Alltag oft gestresst“.
Entweder bleibt hier unklar, welche Personen mit „wir“ genau gemeint sind, oder es handelt sich um eine unzulässige Verallgemeinerung im Sinne von „alle Menschen“ – und welcher Wissenschaftler kann ernsthaft für alle Menschen sprechen?
Natürlich muss das Pronomen nicht immer im Nominativ stehen (Dativ/Akkusativ: „uns“) und es muss auch nicht immer ein Personalpronomen sein (Possessivum: „unser“). Wo aber ein Wir nicht passt, da passt auch kein Unser. Also nicht: „Unsere Welt ist von stetem Wandel geprägt.“
Übrigens
Welcher Unfug mit dem armen Wir getrieben wird, illustriert auch der sog. Krankenschwesternplural („Hatten wir heute schon Stuhlgang?“), den wohl kaum jemand als „inklusiv“ empfinden dürfte.
Fazit
Wer eine Untersuchung allein verfasst und auf sich selbst Bezug nehmen möchte (oder muss), kann und sollte dafür Pronomen der 1. Person Singular verwenden (ich, mir, mich, mein). Sich selbst als „der Verfasser“ zu bezeichnen wirkt meist gespreizt und ist auch nicht (mehr) üblich.
Pronomen der 1. Person Plural bieten sich an, wenn mehrere Verfasser/-innen beteiligt sind (wir, uns, unser).
Zudem kann das inklusive Wir verwendet werden, um Leser/-innen einzubeziehen („Im Folgenden betrachten wir …“). Allerdings wird auch dieser Gebrauch oft als antiquiert empfunden und ist zumindest außerhalb der Geisteswissenschaften eher selten anzutreffen.