ANOMIA

Krisis in Zeiten des Wandels

Die Anomie-Theorie von Émile Durkheim

Um aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen besser einordnen zu können, lohnt manchmal ein Blick in die Vergangenheit.

Denn alles was gerade passiert – mag es noch so neu und beispiellos erscheinen –, gab es letztlich schon einmal in ähnlicher Form.

Platon hat das deutlich gemacht mit seinem Begriff der Erscheinungen (τὰ φαινόμενα): Was vor unseren Augen erscheint (φαίνεται), ist immer neu und anders. Das, was dahintersteht, die Essenz, das Wesen, ist aber immer dasselbe.

So ist es auch mit dem gesellschaftlichen Wandel.

Anomie am Ende des 19. Jahrhunderts

Als der französische Soziologe Émile Durkheim im Jahr 1897 seine Untersuchung mit dem Titel Le suicide publizierte, waren die meisten Menschen noch zu Pferde oder mit Kutschen unterwegs. Die Welt war also eine andere.

Und doch war vieles ähnlich. Technologische Fortschritte, Industrialisierung, Urbanisierung, zunehmende Arbeitsteilung und die rasante Veränderung (Durkheim sprach eher von „Auflösung“) etablierter Normen und Strukturen führten dazu, dass sich auch die Gesellschaften in rasantem Tempo wandelten.

Durkheim bezeichnete diesen Zustand als „Anomie“, also ein Fehlen von Normen oder Ordnung (gr. νόμος).

Ob die „Ordnung“ hier wirklich fehlte, sei dahingestellt. Entscheidend ist, dass die sozialen Prozesse von vielen Menschen als ordnungslos, desorganisiert oder sogar chaotisch empfunden wurden, und das führte zu soziologisch beobachtbaren Konsequenzen wie Angst, Unwohlsein, asozialem Verhalten und sozialen Konflikten.

Für Durkheim stand insbesondere die Zunahme von Suiziden, die statistisch klar belegt werden konnte, in engem Zusammenhang mit der von ihm postulierten Anomie.

Und heute? – Anomie nach der Jahrtausendwende

Während die Suizidraten in Deutschland auf lange Sicht eher rückläufig sind (leichter Anstieg seit 2020), sind andere Folgen der Anomie, die Durkheim beschrieb, auch heute wieder konstatierbar.

Statt autoaggressivem Verhalten zeigt sich eine zunehmende Verrohung und Aggressivität in Sprache, Kommunikation und politischem Diskurs (befeuert durch die Anonymität in den sozialen Medien). Die jüngsten Wahlen in Sachsen und Thüringen haben jedenfalls deutlich gemacht, dass für viele Menschen das, was um sie herum gerade passiert, eben nicht „in Ordnung“ ist.

Dass sich ihre Wut nach außen richtet – gegen Migrant:innen, Grüne, „die da oben“ oder andere abstrakte Kollektive –, könnte auch damit zusammenhängen, dass politische Autoritäten solche Pöbeleien salonfähig machen – Trump, Merz, Söder, Weidel sind nur einige, die in diesem Kontext genannt werden dürfen.

Auch zu Durkheims Zeiten wurde natürlich auf höchster Ebene gepöbelt, in Deutschland z.B. von Kaiser Wilhelm II. Das hatte letztlich katastrophale Folgen, die auch Durkheim selbst zu spüren bekam: Sein Sohn André fiel 1915 auf dem Balkan.

Anomie – Was tun?

Soziologische Erklärungsansätze sind hilfreich, um Kausalzusammenhänge zu verstehen. Aber das allein reicht nicht. Wenn eine Entwicklung wie vor dem Ersten Weltkrieg verhindert werden soll, sind Lösungsansätze gefragt.

In der Tat hat sich Durkheim auch hierzu Gedanken gemacht. Dem von vielen Menschen so schmerzlich empfundenen Zustand der Anomie sollte seiner Ansicht nach vor allem durch soziale Integration, also eine Stärkung des sozialen Zusammenhalts, begegnet werden, und zwar auf folgenden Ebenen.

  • Gemeinschaften (Familie, Beruf, Religion, Vereine usw.) stärken den gesellschaftlichen Zusammenhalt, indem ihre Mitglieder aufeinander angewiesen sind und sich gegenseitig unterstützen.
  • Bildungseinrichtungen sollten neben Wissen auch soziale Normen und Werte vermitteln, und zwar nicht (nur) in theoretischer Form, sondern durch verantwortungsvolles und vorbildhaftes Handeln der Erziehungs- und Lehrpersonen.
  • Die Aufweichung hergebrachter Normen ist an sich unproblematisch, muss jedoch durch neue ethische Richtlinien kompensiert werden, um gesellschaftliche Orientierung zu bieten. Das erfordert einen (anstrengenden) gesamtgesellschaftlichen Aushandlungsprozess.
  • Extreme Ungleichheit ist unbedingt zu vermeiden. Dazu ist eine stärkere Regulierung der Wirtschaft erforderlich.
  • Regierungen sind in der Verantwortung, die soziale Ordnung aufrechtzuerhalten, indem sie klare Regeln vorgeben und diese mit ihren Institutionen durchsetzen. Der Staat hat dabei neben den individuellen Freiheiten der Bürger explizit auch das Gemeinwohl zu berücksichtigen.

Fazit

Alle diese Vorschläge haben eines gemein: Der Anomie soll durch Stärkung des Nomos begegnet werden. Dazu müssen ordnende Strukturen aktiv erschaffen werden, statt darauf zu hoffen, dass sie sich von selbst einstellen.

Aber wie macht man das?

Ich verstehe Durkheims Analyse als Aufruf an jeden und jede, sich dort aktiv einzubringen, wo er/sie Einfluss nehmen kann – in Familie, Beruf, Religionsgemeinschaft, Sportverein usw. –, und auf die Aushandlung, Einführung und Einhaltung von Regeln zu pochen, statt Zwist, Streitigkeiten, Mobbing, Diskriminierung und Diffamierung freien Lauf zu lassen.

Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene hat der Staat als Korrektiv struktur- und ordnungsgebend einzuwirken, und zwar mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln. Asoziales und gemeinwohlschädigendes Verhalten sollten dazu (sichtbar) sanktioniert werden.