KI und Wissenschaft – Passt das zusammen?

Mein Fazit nach 3 Monaten Nutzung

Man muss nicht auf jeden Zug aufspringen, der gerade vorüberfährt, auch wenn der Lokführer noch so laut schreit, dass er in eine paradiesische Zukunft ohne Probleme führt. #samaltman

Als Wissenschaftler und Historiker betrachte ich solche Prognosen ohnehin mit Skepsis, schon allein deshalb, weil sie in den vergangenen 3000 Jahren unzählige Male ausgesprochen und ebenso oft widerlegt wurden.

Allerdings sollte man sich neuen Entwicklungen auch nicht kategorisch verschließen, denn jeder Fortschritt bringt Chancen.

In diesem Sinne habe ich mich entschieden, dem Chatbot mal auf den Zahn zu fühlen: Was kann er und was nicht? – Besonders in der Wissenschaft.

Hier mein Fazit nach 3 Monaten intensiver Nutzung.

Informationsbeschaffung

Pro

Fangen wir mit dem Besten an: Recherche.

Wissenschaft besteht zu einem Großteil aus Lesen: Um eigene Ergebnisse einordnen und weiterentwickeln zu können, muss man sich mit den Erkenntnissen anderer auseinandersetzen. Und das macht man in der Regel, indem man deren Ideen rezipiert.

Genau dabei ist ChatGPT eine große Hilfe.

Artikel, Bücher, Thesen, Modelle, Diskurse, historische Entwicklungen usw. – all das kann die KI in Sekundenschnelle zusammenfassen, und zwar knapp, auf den Punkt, klar gegliedert, samt abschließendem Fazit.

Das ist wesentlich effizienter als das Browsen in Wikipedia-Artikeln oder das wochenlange Durchforsten von Forschungsliteratur.

Wenn ich also wissen möchte, was auf der Synode von Worms im Jahr 868 verhandelt wurde oder was die zentralen Thesen von C. Wright Mills’ „The Power Elite“ sind, dann hilft mir ChatGPT schnell und unkompliziert auf die Sprünge.

Den gewünschten Detailgrad kann ich mit Angaben zum Umfang regeln:

„Bitte fasse die Vorteile des Bohrschen Atommodells gegenüber Vorläufermodellen in rund 300 Wörtern zusammen.“

Kontra

Wenn man tiefer ins Thema eintauchen möchte, ist ChatGPT ungeeignet. Wird der Chatbot dazu gedrängt, mehr Einzelheiten preiszugeben, neigt er zur Redundanz.

Und Vorsicht: ChatGPT macht die unglaublichsten inhaltlichen Fehler!

Fazit

Für einen schnellen Überblick über ein unbekanntes Thema ist ChatGPT unschlagbar.

Im Gegensatz zu Google und Wikipedia kann man hier direkt Rückfragen stellen, falls etwas unklar geblieben ist. Der Bot hilft einem in der Regel unkompliziert weiter.

Tipp

Forschungsliteratur ist heute oft online verfügbar, nicht selten sogar open source.

Einfach PDF hochladen und um eine Zusammenfassung bitten oder gezielte Fragen zum Artikel stellen.

Literaturrecherche

Pro

Die Literaturrecherche ist das tägliche Brot des Wissenschaftlers. Denn in der Wissenschaft genügt es nicht, Informationen irgendwo aufzutreiben; vielmehr muss man belegen können, wer was wann und wo gesagt hat.

Das macht ChatGPT bei populären Themen recht gut: Die Frage nach der maßgeblichen Literatur zur archäologischen Stätte von Catalhöyük führt z.B. zu Ian Hodder, dessen Publikationen mit korrektem Titel und Erscheinungsjahr angegeben werden.

Allerdings hätte Google das auch geschafft.

Kontra

Wenn’s ans Eingemachte geht, beginnt ChatGPT zu schwächeln.

Auf die Frage nach Spezialliteratur in Nischenfächern zaubert der Chatbot Publikationen aus dem Hut, die mit dem Thema nichts zu tun haben, die es gar nicht gibt oder die von anderen als den genannten Autor:innen verfasst wurden. Ziemlich abenteuerlich!

Zwar entschuldigt der Bot sich artig, wenn er auf den Fehler hingewiesen wird, aber das hilft mir jetzt auch nicht mehr weiter.

Fazit

Für die wissenschaftliche Literaturrecherche – zumal nach Spezialliteratur – ist ChatGPT unbrauchbar. Wenn ich für jeden genannten Titel alle Angaben nachprüfen muss, ist das keine große Hilfe.

Effizienter sind die klassischen Recherchedatenbanken (Google Scholar, JSTOR, PubMed, MUSE, BASE usw.).

Hier muss ich zwar manuell suchen, erhalte dafür aber auch relevante Treffer.

Übersetzung

Pro

Ob Primär- oder Sekundärliteratur – manchmal steht einem die Publikationssprache im Weg.

Kein Problem für den polyglotten Bot: einfach freundlich um eine Übersetzung bitten.

Übrigens kann ChatGPT neben den Wissenschaftssprachen Englisch, Französisch, Spanisch und Russisch auch Chinesisch und andere Sprachen, die nicht auf dem lateinischen Schriftsystem beruhen.

Können Sie das hier übersetzen?

ChatGPT schon – einfach per Copy and Paste einfügen.

Kontra

Natürlich dienen solche Übersetzungen nur einem groben Überblick. Als Grundlage wissenschaftlicher Arbeit sind sie nicht zu gebrauchen – besonders, wenn es um eine exakte Textanalyse geht.

Mein Eindruck: Der Chatbot ist im Englischen am stärksten. Stark flektierende Sprachen wie das Lateinische und das Altgriechische, bei denen die Übersetzung kontextsensitiv erfolgen muss, stellen ChatGPT unüberwindliche Hürden. Möglicherweise gilt das auch für andere Sprachen, die sich syntaktisch stark vom Englischen unterscheiden.

Fazit

Fremdsprachige Quellenzitate übersetzt ChatGPT anstandslos und gibt den Inhalt fremdsprachiger Dokumente sinnvoll wieder.

Wie immer steckt der Teufel im Detail. Sprachliche Nuancen bleiben bei der Übersetzung auf der Strecke und Kontext ist für den Bot ein Fremdwort.

Umschreiben lassen

Pro

Manchmal hat man ein Brett vorm Kopf. Man weiß, was man sagen will, aber die richtige Formulierung will einfach nicht kommen. Das geht auch mir als Lektor häufig so.

ChatGPT findet schnell Alternativen, oft sogar passende und elegante.

Außerdem ist der Chatbot ein Computer und mag Zahlen. Alles, was messbar ist, setzt er recht gut um: „Bitte gliedere diesen Text in vier gleich lange Abschnitte und kürze ihn auf 250 Wörter.“ – Läuft.

Kontra

Aber was wurde da jetzt weggekürzt? Nur Füllwörter oder auch Essenzielles?

Lassen Sie sich überraschen!

Noch abenteuerlicher wird es, wenn subjektive Kategorien wie „anspruchsvoller“, „wissenschaftlicher“, „weniger altmodisch“ oder „klarer“ ins Spiel kommen.

Auch hier ist der Output teilweise brauchbar. Aber bis ich meinen kybernetischen Partner dazu gebracht habe, das auszuspucken, was ich haben möchte, habe ich es längst selbst erledigt.

Schreiben lassen

Wir wissen mittlerweile alle, wie schnell und zuverlässig KI Texte verfassen kann.

Das Problem ist: Diese Texte sind eine Zusammenfassung von gegebenen Informationen – also rein deskriptiv (s. ersten Punkt oben). Zudem neigen sie zu redundantem Blabla, sodass man manchmal den Eindruck hat, man lese gerade „Lorem ipsum …“.

Während das für (schlechte) Werbetexte hinreichen mag, ist ChatGPT eine kritische Auseinandersetzung mit einem komplexen Thema nicht zu entlocken.

Was hier fehlt, ist Stilempfinden, Sprachgefühl und vor allem der kreative wie kritische Umgang mit einer vielschichtigen Materie.

Fazit

KI ist ein prima Ideengeber und hilft damit auch geübten Schreiber:innen aus der Patsche.

Ein brauchbarer wissenschaftlicher Text ist jedoch etwas anderes als eine Produktbeschreibung oder ein Werbetext für Zahnpflegeartikel.

Auch hier gilt deshalb: Besser gleich selber schreiben – das spart Zeit.

Textverarbeitung

Zum Abschluss noch ein Highlight:

Wer schreibt, schreibt heute meist nicht mehr mit Tintenfass und Federkiel, sondern mit einem Textverarbeitungsprogramm. Solche Programme haben es mittlerweile in sich. Ihre Möglichkeiten sind ebenso unüberschaubar wie die Fallstricke, die sie einem auf dem Weg zum fertigen Text stellen: Formatvorlagen, Listentypen, Textausrichtung, Silbentrennung, Seitenumbrüche, Schriftauszeichnung, Grafiken, Tabellen, Kopf- und Fußzeilen, Einzüge, Spalten – – – okay, ich höre ja schon auf.

Wie man das Ergebnis bekommt, das man haben möchte, zeigt einem ChatGPT zuverlässig und unschlagbar kostengünstig. Denn welcher Word-Coach arbeitet schon rund um die Uhr für einen Monatslohn von rund 20 Euro?

Und hier ist der Bot sogar recht kreativ: Wenn das gewünschte Word-Feature nicht direkt als Default abrufbar ist, schlägt er ein gangbares Workaround vor. Respekt!

Fazit

Besonders bei den technischen Seiten des Schreibens, die sich rasend weiterentwickeln, ist ChatGPT eine große Hilfe.

Word-Seminare, die ein halbes Wochenende dauern, wirken dagegen wie Strickpullunder über beigem Hemd.

Fazit

Summa summarum: ChatGPT 4o ist ein leistungsstarkes Werkzeug, das insbesondere das gezielte Recherchieren nach (gut zugänglichen) Informationen außerordentlich erleichtert.

Ich kann schon jetzt sagen, dass es mir bei meiner Arbeit viel Zeit spart, die ich für Sinnvolleres verwenden kann.

Insofern darf ich das Werbeversprechen von OpenAI, dass ChatGPT unser Leben einfacher macht, ein Stück weit bestätigen – auch wenn ich immer noch zweifle, ob KI das Problem des Klimawandels beseitigen und alle Krankheiten bis zum Ende des Jahrhunderts heilen wird. #jesusaltman

Aber gut: Marketing ist halt Marketing.

Letztlich leidet ChatGPT noch an so manchen Kinderkrankheiten. Der wesentliche Fortschritt gegenüber einer einfachen Google-Suche ist für mich, dass man die Informationen, die man sucht, in einer besser zugänglichen Form – nämlich sortiert und ausformuliert – angeboten bekommt. Das spart Zeit. Die vielgepriesene „Intelligenz“ des Chatbots lässt dagegen weiter auf sich warten, was ich aber beim aktuellen Preis für ein Monatsabo gerne in Kauf nehme.

In diesem Sinne hat die KI-Textgenerierung einiges mit der KI-Bildgenerierung gemein:

Was auf den ersten Blick ganz gut aussieht (erstes Bild), sorgt bei genauem Hinsehen für Stirnrunzeln (zweites Bild): Kühe ohne Kopf, ein schwarzes Kamel und einen Kuhkadaver (?), der im Fluss versinkt, hatte ich eigentlich nicht gepromptet …