Über die Erkenntnis

In der Wissenschaft geht es oft um „neue Erkenntnisse“.

Aber „Erkenntnis“ – was ist das eigentlich?

 

Oberflächlich betrachtet fällt die Antwort leicht:

Ich „erkenne“ – d.h. verstehe, begreife – etwas, das mir bisher unbekannt war.

Ich habe eine Einsicht gewonnen, etwas dazugelernt, weiß jetzt mehr als zuvor.

Bei genauem Hinsehen stellt sich allerdings ein philosophisches Problem – und zwar ein ganz zentrales:
Wie ist Erkenntnis überhaupt möglich?

 

Mit dieser Frage setzen sich Philosophinnen und Philosophen seit mindestens 2500 Jahren auseinander. Es gibt sogar ein eigenes philosophisches Fach, das sich ausschließlich damit beschäftigt: die Erkenntnistheorie oder Epistemologie.

Aber reisen wir 2500 Jahre in die Vergangenheit und sehen wir uns eine der ersten schriftlich fixierten Versionen der Erkenntnisfrage an:

Ein uraltes Problem

In Platons Dialog „Menon“ sucht Sokrates zusammen mit seinem Gesprächspartner nach einer Definition von „Tugend“.

Er fragt: „Tugend – was ist das?“

Wie so oft ist Sokrates – und das macht ihn zum wahren Philosophen – ebenso unwissend wie sein Gesprächspartner.

Er sagt nicht: „Hör zu, ich erkläre es dir“, sondern:

Περὶ ἀρετῆς ὃ ἔστιν ἐγὼ μὲν οὐκ οῖδα.

Ὅμως δὲ ἐθέλω μετὰ σοῦ σκέψασθαι καὶ συζητῆσαι, ὄ τι ποτέ ἐστιν.

„Ich weiß nicht, was Tugend ist.

Trotzdem will ich zusammen mit dir überlegen und danach suchen, was sie sein könnte.“

 

Sokrates sucht also nach einer „Erkenntnis“.

Und hier lauert schon das angesprochene erkenntnistheoretische Kernproblem, das sein Gesprächspartner Menon sofort aufgreift:

„Wenn dir das, was du suchst, unbekannt ist, wie willst du es dann finden?

Und sollte dir das Gesuchte zufällig begegnen: Woher weißt du dann, dass es das ist, was du gesucht hast?“

Erkenntnis und Wiedererkennen

Wahre Erkenntnis kann sich nur auf etwas beziehen, das uns zuvor unbekannt war. Sonst wäre es keine echte Erkenntnis, sondern nur ein Erinnern – ein Wiedererkennen.

 

Wer schon mal seine Schlüssel verlegt hat, kennt das:

Ich weiß, was ich suche, ich weiß, wie sie aussehen.

Wenn ich sie gefunden haben, erkenne ich sie als meine Schlüssel wieder.

Eine wahre „Erkenntnis“ ist das aber noch nicht.

Ich habe nur etwas wiedergefunden, das ich schon kannte.

 

Bei der Suche nach der wahren Erkenntnis gibt es dagegen eine Leerstelle:

Ich will etwas wissen, kann aber noch nicht genau sagen, wie das, was ich suche, aussieht.

Deshalb suche ich ja.

Und wenn ich es gefunden habe, merke ich es irgendwie.

Ich habe dann ein Gefühl, das mir sagt: Das ist es, was ich gesucht habe!

Hὕρηκα – heureka!

 

Diese eigenartige Konstellation macht das Erkennen so schwierig – und zugleich so spannend.

Wie die Neugier uns verändert

Am Erkenntnisprozess ist also unzweifelhaft eine dritte Instanz beteiligt, etwas zwischen Nichtwissen und Wissen, das beide verbindet und den Weg vom einen zum andern ebnet.

Wir können es Neugier, Wissbegier, Erkenntnisdrang oder auch anders nennen.

 

Das Schöne daran:

Die Erkenntnis ist eine Ressource, die niemals zur Neige geht.

Wir mögen uns noch so viel davon zu eigen machen, sie wird darum nicht weniger.

 

Und der Wissbegier ist vielleicht die einzige Gier, die wirklich unschädlich ist.

Sie will nicht besitzen, nicht verkaufen, nicht beherrschen, nicht sich einverleiben – sondern nur erkennen.

Das Erkannte bleibt ganz, wie es ist – was es ist.

Unberührt und unverfälscht.

Aber wir, die Erkennenden, verändern uns.